Japanische Ästhetik

Wesentliche Prinzipien japanischer Ästhetik sind RAUM und ZEIT sowie die ästhetischen Kategorien “Mono no aware” und “Wabi Sabi”.

Raum

„Leere ist Form – Form ist Leere“

Leere, ist das „mu“ des Buddhismus – Der leere Raum „ma“ – das Dazwischen – wirkt zwischen den gefüllten Räumen, verbindet sie miteinander und bildet so die geistige Mitte.

Die Schönheit der japanischen Kunst liegt also nicht nur in den Dingen selbst, sondern im japanischen Konzept der Leere „mu“ und vor allem im Zwischenraum „ma“, den man als einen Ort der “erfüllten Leere” sehen kann.   

Jegliches Kunstwerk erlangt seine volle Bedeutung nur in Relation mit dem nicht Gezeigten, dem nicht Gesagten, dem nicht Gehörten. Die Leere und die Lücken dazwischen verbinden Formen und Bedeutungen und werden so wichtig, verweisen letztendlich zurück auf die Natur des eigenen Geistes.

Schale "Ensō"
Innenansicht der Schale von R. Meinel "Ensō" (jap. 円相 = Kreis, das Symbol steht für "mu 無" = Leere "

Zeit

Alles was eine Form hat, ist einem Wandel unterzogen, ist unbeständig und dem Werden und Vergehen unterworfen.

In der klassischen japanischen Ästhetik ist die Vergänglichkeit allen Seins ein wesentliches Sujet der Kunst. Farbe kann dabei für Form stehen, während Weiß das „mu“ (die Leere) beschreibt – so z. B. im weißen Kies der Zen-Gärten oder im Nebel auf Tuschgemälden. Da Weiß alle Farben als Potenzial vereint, eignet es sich daher besonders als Stellvertreter für „mu“, aus dem die Form mit ihren jeweiligen Farben hervorgeht. Die Vergänglichkeit orientiert uns auf das Leben im Jetzt – alles fließt im Lauf der Zeit – es wird, es ist und es vergeht!
Dies alles macht nicht nur die klassische japanische  Kunst aus, sondern lebt selbst irgendwie genauso im modernen Japan.

Mono no aware

lässt sich schwer ins Deutsche übersetzen. Eigentlich ist es eine Mischung aus Freude, Trauer und Hinnahme, ein gemischtes Gefühl von Freude und Traurigkeit über die Unbeständigkeit und Sterblichkeit aller Dinge. Die Kirschblüte “sakura“, die jedes Jahr nur für eine kurze Zeit erblüht und danach vergeht ist das vielleicht bekannteste Beispiel dafür. Mono no aware ist demnach das Pathos, die Traurigkeit der Dinge: Nichts ist vollkommen, nichts steht still, nichts ist für immer.

Wabi Sabi

Wabi 侘び ist die Stille und Rustikalität und sabi 寂び die Anmut des Alterns und Vergehens . 

Wabi und sabi beschreiben eine Art und Weise, auf die Welt zu schauen und Fehler und Mängel, Schlichtheit und Einfachheit, Flüchtigkeit und Sterblichkeit zu akzeptieren und sogar als schön zu empfinden. Auch im Alltäglichen, im Altern und im Zerbrochenen lässt sich das Schöne und Besondere erkennen.

Nelkenkirsche "kiku shidare"
Japanische hängende Nelkenkirsche "kiku shidare"
Holzfassade Kurashiki
Detail einer Holzfassade in Kurashiki, Präfektur. Okayama. Die Spuren der korrodierten Nägel ergeben eine perfekte Patina

Shin-ichi Hisamatsu – ein Zen-Mönch, Kalligraph und Philosoph der Kyoto-Schule, hat in den 70-80er Jahren des 20. Jahrhunderts sieben Kategorien zur Beschreibung eines vom Zen geprägten Kunstwerkes aufgestellt. (Lit.: Hisamatsu Shin´ichi, „Zen to bijutsu“ Kyoto 1976 – deutsch 1982)
Diese Kategorien erscheinen seitdem in unterschiedlicher Benennung und Reihenfolge in allen Schriften zur Kunst und Ästhetik Japans. Diese sieben ursprünglichen Begriffe von Hisamatsu benutzen werden benutzt, um nachfolgend in jeweils 7 Sätzen das Verhältnis zur japanischen Kunst und Ästhetik zu definieren, mit der Hoffnung, damit Spezifika, Besonderheiten und Eigenheiten nicht zu verwischen, sondern zu fokussieren, auf das Wesentliche zu bannen.
Warum aber 7:
Hisamatsu hat sieben Kategorien definiert; die Sieben ist in der japanischen Numerologie wichtig: Es gibt z. B. sieben (Ur)Glücksgötter im  Shinto und Buddhismus. Die Zahl Sieben ist auch eine wichtige Zahl in der Shinto-Architektur…

Roland Meinel (nach Shin-ich Hisamatsu)

7 x 7 Sätze zur Ästhetik in Japan

1. Unebenmäßigkeit - Asymmetrie (fukinsei)

Unebenmäßigkeit
ist die Abkehr von Vollkommenheit, von Gesetzmäßigkeit und Regeln;
sie ist die eigentliche Schönheit des Gebrochenen, des aus der Mitte Gerückten, der Unregelmäßigkeit und Nicht-Strukturierbarkeit des Lebendigen –
nur das Heilige ist symmetrisch, ebenmäßig. 

Unebenmäßigkeit
ist die unregelmäßig erscheinende „schrundige“ und raue Oberfläche einer Teeschale, mit Brüchen und Gebrauchsspuren.

Unebenmäßigkeit
ist die Asymmetrie in den Malereien japanischen Meister.

Unebenmäßigkeit
ist oft in den roh, ausgezehrten und hölzern erscheinenden Köpfen buddhistischer Plastiken zu finden.

Unebenmäßigkeit
ist der Ausbruch aus der Regel, das Vorgehen gegen unsere Erwartungshaltung – wie die Wegführung in den Tempeln. 

Unebenmäßigkeit
ist das aus der Mitte gerückte Blumenarrangement in der tokonoma (Nische in den japanischen Wohnräumen).

Unebenmäßigkeit
ist der zufällig wirkende, spontan gesetzte Pinselstrich in der Kalligrafie. 

Teehaus, Kyoto,
Weg zu einem Teehaus, Kyoto, Gelände des Kaiserpalastes

2. Einfachheit (kanso)

Einfachheit
Schlichtheit und Reduktion ist die Reaktion auf das Chaos der Welt und das Bemühen ihm zu entkommen – durch Leere, die alles einschließt (Leere ist Form – Form ist Lehre). 

Einfachheit
ist die Schlichtheit und die Leere des Teeraumes, mit einfachen Materialien mit größter Einfühlung gebaut; ist die Reduktion des japanischen Teegerätes, dessen Schönheit im Verborgenen liegt.

Einfachheit
ist das Prinzip, was die traditionelle und moderne Architektur Japans bestimmt .

Einfachheit
ist bei japanischer Kleidung die Konzentration auf das Wesentliche ohne Belastung durch allzu Nebensächliches und Unnützes.

Einfachheit
zeigt sich in Strukturen und Mustern geflochtener Bambusstreifen bei Behältern und Körben.

Einfachheit
ist die Konzentration auf das Schwarz/Weiß bei der japanischen Kalligrafie.

Einfachheit
ist die Reduktion als Merkmal des modernen Designs in Japan – nicht um seiner selbst willen geschaffen – sondern um zweckdienlich zu sein.

Geflecht, Nezu-Museum Tokyo
Geflecht, Nezu-Museum Tokyo, Teil einer Fensterverkleidung

3. Herbe Würde (koko)

Herbe Würde
Raue Geläutertheit, Kontraktion, Zerfall und Trockenheit zeigen uns die Dinge und Materialien, befreit vom Zufälligen und Unnötigen im Lauf der Zeit.

Herbe Würde
ist die Erhabenheit über das Irdische in der buddhistischen Kunst – Buddhabildnisse  aus Holz, Lack und Bronze.

Herbe Würde
und Erhabenheit – das sind die alten zerzausten, aber aufs Genaueste getrimmten Kiefern in den japanischen Gärten. 

Herbe Würde
zeigen die abgenutzten Werkzeuge der Bauern und die Patina ihrer Eisenkessel und Kochgeschirre – Wandel durch Alter und Gebrauch.

Herbe Würde
hat die zersprungene Keramikschale, die mit vergoldetem Lack geklebt wurde und die nun schöner ist als zuvor.

Herbe Würde
haben die ausgetretenen, Jahrhunderte alten Treppen und Böden der Klöster, auf denen ungezählte Schritte ihre Spuren hinterlassen haben.

Herbe Würde
zeigen die Bauwerke aus feinstem Sichtbeton des Architekten Tadao Ando, nach den Maßen der Tatamimatten aufgebaut und mit Lichtschlitzen Verbindung nach außen aufnehmend – den Lauf der Sonne in den Raum bringend.

"kenrokuen", Kanazawa
Garten "kenrokuen", Kanazawa

4. Natürlichkeit (shizen)  

Natürlichkeit
ist das Einswerden mit der Natur durch bewusstes „Es ist so, wie es ist“, durch die reine Hingabe „an die Sache selbst“.

Natürlichkeit
beschreibt die Bescheidenheit eines schöpferischen Geistes, die sich zeigt an seinen unprätentiösen, aber hochartifiziellen Werken – die Villa Katsura in Kyoto, eine Prinzenwohnung, ist bewusst arm und karg, aber bis zum letzten Detail gestaltet.

Natürlichkeit
ist die Selbstverständlichkeit der Verbindung des Unnachahmlichen in der Natur und der vom Menschen gemachten perfektionierten Form in Architektur und Gartengestaltung – etwa wie der Blick  aus dem Raum durch das Fenster in den Garten.

Natürlichkeit
ist die schüchterne Schönheit japanischen Papiers (washi) – vielgestaltig, vollkommen, dezent – von hauchdünn bis streng und stark. 

Natürlichkeit
meint das Kunstlose an der Kunst, das Setzen von Realitäten und das Spiel mit den Möglichkeiten – wie die Steinsetzungen im Kiesbett des Japangartens.

Natürlichkeit
das ist auch das Pathos der Dinge – das „mono-no-aware: „Das Herzzerreißende der Dinge“ – die Empfänglichkeit für die flüchtige und subtile Schönheit der Natur und die Vergänglichkeit – wie dies im Anschauen der Kirschblüte (hanami) geschieht.

Natürlichkeit
das ist „wabi-sabi“–  die japanische Kunst, Schönheit in der Unvollkommenheit und Tiefe in der Natur zu finden, den natürlichen Kreislauf von Wachstum, Verfall und Tod zu akzeptieren – einfach, langsam und ordentlich – und es stellt Authentizität über alles.“  (Tadao Ando, Der Geist des Wabi Sabi, Lettre International 105, http://woodenspaces.de/?p=3406)

"suizenji", Kumamoto,
Blick aus einem Teehaus auf den Garten "suizenji", Kumamoto, Kyushu

5. Tiefgründigkeit (yugen) 

Tiefgründigkeit
ist jene unergründliche Verborgenheit in der Kunst, in der Sinn, Form und Stimmung verhüllt sind, nicht offen zutage liegen, sondern nur angedeutet werden.

Tiefgründigkeit
ist das Rätsel der Andeutung des Nichtrationalen – nicht Denken, sondern Intuition und Einfühlung benötigt man, um das Mysterium der  Unergründlichkeit des Seins zu erspüren in den Tiefen der Kunst.

Tiefgründigkeit
das ist die Verschlossenheit des Großen im Kleinen – Dinge, die man suchen und erfühlen muss – unter dem Nebel in den Bergen, auf den Tuschzeichnungen oder Malereien.

Tiefgründigkeit
ist die Zurückhaltung, das Verbergen – sind die verschlossenen Kunstschätze in den Klöstern oder Schreinen, die selten oder gar nicht gezeigt werden und doch existent sind.

Tiefgründigkeit
ist das Subtile im Verschwommenen, im Dunkel und Halbdunkel – das gedämpfte Licht der mit Papier bespannten Fenster (shoji): Das „Lob des Schattens“ wie der japanische Schriftsteller Jun´ichiro Tanizaki in einem Essay dies nannte.

Tiefgründigkeit
ist Zurückhaltung – das Bestreben, Offenheit zu vermeiden, Geschenke zu verpacken und Kunstwerke zu verschließen.

Tiefgründigkeit
das ist das abgrundlose Schwarz des japanischen Lackes.

Teehaus Adachi-Museum
Fenster im Teehaus des Adachi-Museums, Yasugi, Shimane

6. Freiheit von Anhaftung (weltlicher Form) (datsuzoku) 

Freiheit von Anhaftung
ist Nichtunterwerfung und auch Entweltlichung, ist die Freiheit einer unbegrenzten Unbefangenheit in der Kunst – die „Ungehindertheit des ursprünglichen Selbst-Seins“. (Shin-ichi Hisamatsu)

Freiheit von Anhaftung
ist das Abstreifen jeglicher Regeln und Vorschriften, das Vermögen, keiner Theorie anzuhängen und Autoritäten  nicht zu folgen, frei vom Ego – ohne Dogmen – der Teemeister Sen no Rikyu und seine Teekultur, der „Teeweg“, mögen nur ein Beispiel dafür sein.

Freiheit von Anhaftung
Nichtunterwerfung ist die japanische Tradition, Schreine und auch Tempel nach einigen Jahren abzureißen und neu zu erbauen – auch so haben sich uralte Handwerkstraditionen und -techniken erhalten.

Freiheit von Anhaftung 
ist die Grundlage für die Spontaneität in der das ursprüngliche Selbst verwirklicht wird, welches sich in den aufeinanderfolgenden Generationen von Künstlern, Kunsthandwerkern und Handwerkern zeigt – es wird ähnlich und ganz anders gearbeitet.

Freiheit von Anhaftung
ist der Raum des Schnittes (kire), der vollzogen wird, um Natur von Kunst zu trennen – erst das Schneiden der Blüte ermöglicht Ikebana, erst das Ausblenden der Natur im Trockengarten ermöglicht es, die Natürlichkeit der Natur auszudrücken.

Freiheit von Anhaftung
ist die Übernahme und Vervollkommnung von Erfindungen anderer zu einer Qualität, die den eigentlichen Vorbildern überlegen ist – Schrift, Papier, Lack aus China, Keramik aus Korea und nicht zuletzt selbst Baumkuchen aus Deutschland.

Freiheit von Anhaftung
ist das Vermögen, Traditionen zu erhalten, aber trotzdem große Vielfalt und Mannigfaltigkeit bei Kunst, Handwerk und Volkskunst zu erreichen.

7.  Innere Ruhe, Stille (seijaku)

Innere Ruhe 
entsteht durch das Gewahr-Werden des ursprünglichen Selbst – das „mu“; das zen-buddhistische „Nichts“ ist hingegen unbewegt und erzeugt daher, durch die Abwesenheit von Gedanken, innere Gemütsruhe.

Innere Ruhe
und Stille – erreicht man in der „erfüllten Leere“ des Zen-Buddhismus.

Innere Ruhe
ist reine Stille, Einsamkeit – japanische Künste sind oft Meditationen.

Innere Ruhe
und Frieden ist der erste Weg, Befangenheit abzustreifen und unvoreingenommen die Welt wahrzunehmen.

Innere Ruhe
ist die Voraussetzung, beim Bogenschießen den Pfeil ins Ziel zu bringen.

Innere Ruhe
ist der pflanzenlose Trockengarten des Zen-Klosters.

Innere Ruhe
ist die Gelassenheit, mit der Tee getrunken wird. 

Schreingebäude Ise-Schrein
Schreingebäude im Ise-Schrein (Geku)
"Ginshadan - Gingaku-ji Kyoto
Sandgarten "Ginshadan - See des Silbersandes“ mit "kōgetsudai, Mondschauplattform", Gingaku-ji (Silberner Pavillon), Kyoto

Textauszug:  Roland Meinel, Einführung zur Ausstellung „FARBTON“,
7. Oktober bis 12. November 2017 – Dirk Lange – MARMORIERTE GRAFIK – Carola  und Reimar Krüger – KERAMIK – PORZELLAN, Leipzig, Oktober 2017.